Montag, 18. Januar 2021

Das Auge der Weisheit


“What can I do, dear ones ? 
I do not know myself.
My place is the placeless, my trace is the traceless.
I have put duality away, 
I have seen that the two worlds are one.
One I seek, One I know, 
One I see, One I call. ”

Mewlana Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī (1207-1273)









Was ist es, Seele in einem menschlichen Körper zu sein? Was bedeutet es, auf der Erde zu leben? Wie nutzen wir, was uns gegeben ist?

Wissenschaft lehrt uns, die materiellen Grundlagen des Lebens zu verstehen. Das ist Methode.

Überlieferung lehrt uns, die spirituellen Grundlagen des Lebens zu verstehen. Das ist Weisheit.

Als Seelen in einem Körper brauchen wir beide:

In unserer Zeit zeigt sich der Mensch als Meister der Methode. Wir sprechen vom Anthropozän - der Mensch wurde durch seine Kenntnisse sogar zu einer geologischen Kraft. Im Streben nach Fortschritt, zur Erhaltung und weiteren Vermehrung des Wohlstands unserer Gesellschaften, geht unsere Forschung inzwischen so weit, das Leben selbst manipulieren zu wollen. Sie setzt sich dabei über Evolutionsprozesse hinweg, die Milliarden von Jahren erprobt sind. 

Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in allen Bereichen hat ein Ausmaß angenommen, das man als kriminellen Anschlag auf das Leben auf der Erde insgesamt betrachten muß. Die Folgen dieses rücksichtslosen Handelns sind überall und für jedermann sichtbar. Der Menschheit ist dies also wohl bewußt - und dennoch setzen wir unser zerstörerisches Verhalten weiter fort?

Wir haben über dem Materiellen vergessen, den zweiten Pfeiler unseres Daseins zu kultivieren, die Weisheit - Erfahrung und Erkenntnis all derer, die vor uns gelebt haben. Wir brauchen ein zweites Zeitalter der Aufklärung, denn das erste führte uns einseitig auf den Pfad der Methode. Wir leben ernsthaft im 21. Jahrhundert noch auf Grundlage einer gesellschaftlichen Bewegung des 17. Jahrhunderts? Wie können wir das Ganze sehen, wenn wir nur mit einem Auge hinschauen?

Vielen Menschen ist dies bewußt. Überall wird versucht, eine ursprüngliche, nicht materialistisch mißbrauchte Weisheit zu finden und danach sein Leben auszurichten. Was aber ist diese Weisheit, wie finden wir sie? Wir sind global vernetzt, wir haben Zugang zu allen möglichen Mitteln. Wir können die alten Schriften studieren, zu heiligen Orten pilgern, wir können uns Lehrer suchen. Wir können suchen mit den uns wohlbekannten Mitteln von Methode und hoffen, vielleicht irgendwo dort draußen fündig zu werden.

Der einfachste und schnellste Weg zu ursprünglicher Weisheit wäre es, unser blindes Auge zu nutzen, nach innen zu schauen, und auf das Flüstern der Natur zu hören. Das ist schwer für uns, niemand hat es uns gelehrt und wir sind ganz allein. Wir sind unsicher, ob wir unserer Erfahrung trauen können. Wir sind versucht, unser Erleben mit unserem gewohnten Auge zu betrachten. Mit dem Blick von Methode, dem Blick des Zweifels, fragen wir: Was sagt die Wissenschaft zu meinem Inneren, meinen Gefühlen, meinen Träumen, meinen Visionen? Moderne Psychologie liefert freudig Antworten. Eine ganze blühende Industrie lebt davon, die allgemeine Unsicherheit zu bedienen und neuen Forschungsbedarf zu erzeugen. Wir sollten besser vorsichtig sein und prüfen, ob die traditionellen Weisheitslehren über das Bewußtsein nicht erneut von Menschen mißbraucht werden, die sich doch nur auf dem altbekannten Pfad von Methode bewegen.

Das Auge der Weisheit wartet auf unsere Erlaubnis, endlich sehen zu dürfen.

Keine Kommentare: