Sonntag, 31. Januar 2021

Natur, was ist das? Teil I

 









Angesichts der ökologischen Krise, in der wir stecken, sollten wir uns mit der grundlegenden Frage auseinandersetzen, was wir Menschen unter Natur verstehen. Zurück zur Natur, ist das die Lösung? Und was wäre das dann für ein Zustand? Hier der Beginn einer kleinen Serie zu einem komplexen Thema.

Unser westlicher Naturbegriff wurde durch den griechischen Philosophen Platon im 4.Jh. v. Chr. geprägt. Er definierte als Natur einfach alles, was schon da ist und bezeichnete dies mit dem Begriff „Physis". Dies beinhaltete sowohl die äußere, materielle Natur wie auch das, was einem Wesen im Inneren zu eigen ist, also die Seele und die Verbindung zum Kosmos oder dem Göttlichen. Platons Schüler Aristoteles führte dann den Begriff „Techné" für alles willkürlich Geschaffene ein - damit war die Grundlage gelegt für die spätere Naturphilosophie, die Kultur als wesentliches Merkmal von Zivilisation definierte, was auch die zweckhafte Umgestaltung von „Natur“ beinhaltete. 

Zweck war grundsätzlich, sich das Leben zu vereinfachen, Zeit und Kraft zu sparen. Dafür wurden alle Kulturtechniken (übrigens im gesamten Tierreich) entwickelt. Die „Kultivierung“ der Natur durch den Menschen, also die Veränderung dessen, was man vorfand, mit den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln, die immer weiter verfeinert wurden, führte zu kriminellem Raubbau und schließlich zu dem beginnenden Zusammenbruch kompletter Ökosysteme, den wir heute sehen. 

Bereits in der Steinzeit hat der Mensch „overkill“-Strategien angewandt, in deren Folge (zusammen mit ungünstigen klimatischen Faktoren) weltweit vor etwa 15.000 Jahren die gesamte eiszeitliche Megafauna ausgerottet wurde. Es wurde stets mehr, und dann noch mehr entnommen, als man für das eigene Überleben brauchte. Dies führte zu immer größeren Veränderungen der natürlichen Systeme, degenerierte, meist kraftlose „Kulturlandschaften“ entstanden, und die wilden „Naturlandschaften“ mußten dank der Verbesserung der technischen Mittel zunehmend weichen. Es folgte eine innere Entfremdung von Natur - das Wissen über die ursprünglichen Gegebenheiten verschwand, und viele Menschen empfinden Raps- und Maisfelder und monotone Forste tatsächlich als schön, als Natur. Sie haben also im platonischen Sinne das, was an Umwelt gegeben ist, bereits als ihre Natur verinnerlicht. 

Die Verluste an Biodiversität in unseren Tagen der "Hochtechnologie“ sind so groß, daß die Journalistin Elizabeth Kolbert dieses Massensterben (bzw. den Massenmord) in ihrem preisgekrönten Buch 2014 als sechste Welle bezeichnet - der Mensch hat die Kraft einer Naturgewalt angenommen, wir gestalten das Zeitalter des Anthropozän. 

Wir müssen erkennen, daß der Mensch schon lange Krieg gegen die Natur führt - unsere vermeintliche „Hochkultur" hat es leider nie geschafft, dieses Verhalten als ungünstig zu erkennen und entsprechende Moralvorstellungen zu entwickeln. Dieses Verhaltensmuster ist inzwischen so tief im menschlichen Wesen verankert, daß wir zwar erkennen, das wir inzwischen dem eigenen Untergang entgegengehen, aber nichts dagegen tun. Wir schauen weg, bis es wie in Lars von Triers Film "Melancholia" zur Katastrophe kommt. 

Erinnern wir uns, warum der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde: er wollte immer mehr, als ihm geschenkt wurde. Aus spiritueller Sicht, und das ist auch die biblische Botschaft, ist es unsere genuine Aufgabe als Menschen, diesen Tiefpunkt zu überwinden. Wir können uns entscheiden, ob wir weiter Krieg führen oder endlich friedlich werden wollen. 

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bemerkte 1973, daß "die zunehmende Domestikation des Menschen seine Menschlichkeit bedroht“. Es gilt, unsere ursprüngliche Natur, unsere wilde, undomestizierte Paradiesnatur zurückzuerobern. Es gilt, die Entfremdung sowohl von der äußeren wie auch unserer inneren Natur aufzuheben. Es gilt, unseren mitfühlenden menschlichen Kern, unsere Humanitas, zu erwecken und zu leben.

Wenn uns das nicht gelingt, ist alle Politik hilflos und sinnlos. Nachhaltige Entwicklung steht protzig auf den Agendas, dorthin fließen die Millionen - und das soll also unsere Vision für die Zukunft sein, immer weiter ausbeuten, anderen Lebewesen nur dann ein Daseinsrecht zugestehen, wenn es uns auch nützt? Dieses Konzept ist doch nur ein fauler Kompromiß mit den ewigen Bremsern, den Vorgestrigen, schon lange völlig überholt. 

Die Entwicklung von Mitgefühl und die Anwendung in allen Ebenen unseres Lebens sollte stattdessen der Kern unserer gesellschaftlichen Debatten und unseres Handelns sein!

Wir haben bereits alle technischen Mittel, damit eine Transformation gelingen kann. Die Konzepte liegen anwendungsbereit in den Schubladen. So lange Politik nicht in der Lage ist, adäquat zu handeln, so ist es zu allererst doch an jedem Einzelnen von uns, bewußte Entscheidungen zu treffen. Wie also führen wir unser Leben? Wie ernähren wir uns? Womit beschäftigen wir uns, wie nähren wir unsere Seele? Wem geben wir unsere Arbeitskraft? Wieviel Geld brauchen wir zum Glücklichsein? Usw. .. Schon viele Menschen haben sich aufgemacht, aber immer noch viel zu wenige! Machen wir uns gegenseitig Mut, radikal Mensch zu sein. Machen wir uns gegenseitig Mut, einfach glücklich zu sein.


weiterführende Literatur: 

Elizabeth Kolbert: Das sechste Sterben: Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt (2015) 

E.O. Wilson: Die Hälfte der Erde: Ein Planet kämpft um sein Leben (2016)

Melancholia. Film von Lars von Trier (2011)







Woher kommen die Träume?

 




„Wer die Quelle kennt, trinkt nicht aus dem Krug.“ Willigis Jäger OSB (1925 - 2020)

In meinem Blog finden sich viele posts zum Thema „Natur“. Der Grund dafür ist, daß Natur und Traum eng miteinander verbunden sind, da ihr Ursprung derselbe ist.

Träumen ist hip, Träumen ist lifestyle. Alle träumen wir gern, treten aus unserer Realität heraus, finden die Geschenke unserer Träume interessant. Aber wohin genau gehen wir, wenn wir träumen? Woher kommen die Träume? Das ist keine triviale Frage. 

Wir suchen Kontakt mit der "Natur", wenn wir Kraft schöpfen, uns erholen wollen. Wir fahren hinaus aus der Stadt, vielleicht in eine Gegend mit weitem Blick, um den Kopf frei zu bekommen, lassen uns am Meer den Wind um die Ohren sausen oder laufen barfuß am Strand. 

Im Traum passiert es ganz automatisch, daß wir Kontakt mit dieser Quelle der Kraft bekommmen. Wir bewegen uns hier in unserer inneren Natur, die allerdings von der äußeren gar nicht zu trennen ist. Es ist nur unsere Wahrnehmung, die sich verändert hat. Neben dem Ozean, an dessen Stränden wir spazieren gehen, haben wir auch Zugang zu einem inneren Ozean. Wenn wir aktiv träumen, haben wir noch dazu eine Absicht, mit der wir bestimmte Orte in dieser inneren Natur aufsuchen, wir wollen etwas wissen, Heilung erfahren oder jemanden treffen. Was also ist diese „Natur“, dieser "innere Ozean"?

Das Träumen ist ein Bewußtseinszustand, in dem wir unsere gewohnte, an den Körper und die Sinnesorgane gebundene Realität verlassen und uns in einen weiten, sogar unendlich weiten Raum begeben. Er ist mit materiell-mechanistischen Kategorien nicht zu fassen, da er eben über die individuelle, die körperliche Ebene hinausreicht. Naturwissenschaft zerlegt ihr Sujet in immer kleinere Teile, die man dann messend erfassen kann - das Ganze kommt bei zunehmender Komplexität aus dem Blick. Daher kann Naturwissenschaft auch gar nicht den Anspruch haben, "die Natur" oder "die Wirklichkeit" als Ganzes zu beschreiben. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich mit der Anwendung von Einsteins Relativitätstheorie auch die theoretische Physik („Weltmodell“) weiter, es entstand die Quantentheorie, nach der, basierend auf dem Teilchen-Welle-Dualismus, Materie weder subjektiv noch objektiv verortbar ist - allenfalls beschreibbar als ein „Feld“ von Interkonnektivität. In dem berühmten Briefwechsel zwischen dem Psychiater C.G. Jung und dem Physiker Wolfgang Pauli (1932-1958) geht es in einem weiteren Versuch, naturwissenschaftliche Kategorien auf psychodynamische Phänomene, wie das Träumen oder das Auftreten von Synchronizität, anzuwenden, darum, für die Beschreibung von äußerer und innerer Welt zunächst eine gemeinsame Sprache zu finden. Jung wollte v.a. die Existenz, Bedeutung und Dynamik der von ihm als archetypisch bezeichneten Dimension der Psyche nachweisen und verstehen. Die beiden konstatierten schließlich, daß wir eine solche Sprache bisher nicht haben - der Weg nach innen führt nur über das Erleben, über die inneren Bilder.

Das ist bis heute so geblieben, der weiterhin mechanistische Ansatz der Neurowissenschaften ist daher in dieser Hinsicht nicht hilfreich. Der Physiker H.-P. Dürr (1929-2014) beschrieb das generelle Phänomen, daß nicht nur psychische Phänomene, sondern Materie insgesamt eben nicht faßbar sind: "Wir erleben mehr als wir begreifen."(Für die Vermittlung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Anwendung auf grundlegende gesellschaftliche Fragen wie Umweltschutz und Frieden erhielt er neben vielen anderen Auszeichnungen 1987 den alternativen Nobelpreis.) 

Im tibetischen Buddhismus gibt es schon viel länger eine ähnliche Vorstellung, die in den Lehren der höchsten Vollendung, des Dzogchen, niedergelegt ist. Die (nicht in Kategorien beschreibbare) „Natur des Geistes“ wird verstanden als die Gesamtheit aller Phänomene (die Fülle), und zugleich als das Potential, das diese Fülle zu erzeugen vermag (die Leere).

Sowohl Quantentheorie als auch Dzogchen sind schwer zu erschließen. Die Dzogchen-Lehren wurden immerhin nicht nur als reines Theoriegebäude verfaßt, sondern beinhalten ein umfassendes Geistestraining, das geschulte Meister vermitteln.

Neben der Meditation ist das Träumen eine der empfohlenen Methoden, um in die "Natur des Geistes", die Quelle, die Essenz allen Seins, einzutreten. Dieser Zustand ist bereits aus sich selbst heraus vollkommen, wir brauchen nichts weiter zu tun als loszulassen .. Träume sind die Erfahrung dieser Quelle, dieser Essenz des Bewußtseins - der inneren Natur.


weiterführende Literatur:
Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben (2020)
Keith Dowman: Dzogchen: A Matter of Mind (2020) (english)
Chögyal Namkhai Norbu: Dzogchen – der ursprüngliche Zustand (2017)
H.-P. Dürr: Wir erleben mehr als wir begreifen: Quantenphysik und Lebensfragen (2007)
Robert Moss: Conscious Dreaming (1997) (english)





Montag, 18. Januar 2021

The World Wide Web

 












Wir alle schätzen und genießen die Möglichkeit, uns über alle Entfernungen hinweg mit anderen Menschen verbinden zu können. Zugleich haben wir einen noch vor 20 Jahren undenkbaren Zugang zum enzyklopädischen All-Wissen der Menschheit. Das Internet ist ein Mittel, unsere körperliche und geistige Begrenztheit zu überwinden. Damit haben wir interessanterweise etwas materialisiert, das als spirituelles Modell in den Bewußtseinslehren schon lange bekannt ist. 

Im Buddhismus kennt man das "Netz der Indra", ein Bild für die abhängige Verbundenheit aller Phänomene: Indra, die große Schöpferin, hängte zum Schmuck ihres Himmelspalasts auf dem Weltenberg Meru ein Netz unendlicher Größe auf. An dessen Knoten brachte sie Juwelen an, die wie Sterne die jeweils anderen reflektieren. Da sich eins im anderen widerspiegelt, ist die Reflexion unendlich. Im berühmten Sutra der Blumengirlande (Avataṃsaka Sūtra) heißt es dazu: 

"The Buddhas know that all phenomena come from interdependent origination. They know that all the different phenomena in all worlds are interrelated in Indra's net."

Aus der nordischen Mythologie Europas ist das "Netz von Urd" bekannt: 

Am Fuß des Weltenbaums Yggdrasil leben drei Frauen, die Nornen. Eine davon heißt Urd. Sie bestimmen den Lauf der Welt, indem sie ein Netz aus Runen weben. Dieses Netz repräsentiert die schicksalhafte Verbundenheit aller Phänomene in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - der Antrieb, die Kraft unseres Inneren. 

Alles ist mit allem verbunden. Wir Menschen auch. Jeder von uns ist eins dieser Juwelen, in dem sich das Potential alles Anderen spiegelt. Wie beim Internet ist ein möglicher Gegenstand dieser umfassenden Vernetzung die Kommunikation miteinander, die zunächst eine gegenseitige Wahrnehmung voraussetzt. 

Marcel Proust schreibt in seinem 1923 erschienen Roman "Die Gefangene. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: „Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Länder zu besuchen. Sie besteht darin, neue Augen zu haben.“

Wir sind Gefangene unseres modernen, naturfernen Lebens. Wir möchten uns so gern verbunden fühlen, mit uns selbst und mit der uns umgebenden Welt. Durch unsere Konditionierung haben wir damit allerdings Probleme, wir scheitern an unserer Voreingenommenheit. 

Wer sich darauf einlassen will, mit "neuen Augen“ auf die Vernetzung unserer Welt zu blicken und wer gerne liest, dem wird vielleicht ein großartiges populärwissenschaftliches Buch eines 28-jährigen britischen Pilzkundlers Freude machen, das letzten Herbst erschienen ist. Es wird gerade auch in Deutschland zu Recht ein Bestseller: 

Merlin Sheldrake: Verwobenes Leben: Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen (Ullstein Verlag, 2020)

Rezensionen kolportieren „eine völlig neue Sicht auf das Leben auf unserem Planeten“.  Dies ist es sicher nicht, aber dem Autor ist es auf beispielhafte Weise gelungen, die Welt der Pilze mit der Begeisterung eines Wissenschaftlers für Laien zu beschreiben und gleichzeitig darauf hinzuweisen, was wir vielleicht von der fremden Welt in den Böden lernen könnten. Sheldrake respektiert sie als das, was sie sind - Wunder des Lebens. Er macht deutlich, wie sehr auch unser Leben von diesen Gemeinschaften abhängt, erklärt die Folgen des Raubbaus an den Böden und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf.

Der junge Autor ist der Sohn eines beeindruckenden Paars: Sein Vater ist der Biologe Rupert Sheldrake, der 1981 durch seine inzwischen möglicherweise quantentheoretisch beweisbare These von den morphogenetischen Feldern - Ursachen von Form - bekannt wurde. Inzwischen ist er ein vielfach preisgekrönter Wissenschaftskritiker, der rastlos auf die Notwendigkeit der Überwindung des Schismas von Naturwissenschaft und Spiritualität hinweist. Seine Mutter ist die Familientherapeutin Jill Purce, die sich mit der spirituellen Dimension von Musik auseinandersetzte und bahnbrechende Methoden zur Heilung mit Klang und Tönen entwickelte.

Hier ist Merlin Sheldrake mit einem musikalischen Experiment zu seinem Werk über die Welt der Pilze zu hören, das er seinen Versuchsobjekten offensichtlich mit großer Freude zum Verspeisen anbietet:



Reclaiming the mythical feminine

 

And today, only today,

maybe tomorrow,

I will uncover the wound and bless it.

Sacred ground.

— Olga Romanillos

 

Das Auge der Weisheit


“What can I do, dear ones ? 
I do not know myself.
My place is the placeless, my trace is the traceless.
I have put duality away, 
I have seen that the two worlds are one.
One I seek, One I know, 
One I see, One I call. ”

Mewlana Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī (1207-1273)









Was ist es, Seele in einem menschlichen Körper zu sein? Was bedeutet es, auf der Erde zu leben? Wie nutzen wir, was uns gegeben ist?

Wissenschaft lehrt uns, die materiellen Grundlagen des Lebens zu verstehen. Das ist Methode.

Überlieferung lehrt uns, die spirituellen Grundlagen des Lebens zu verstehen. Das ist Weisheit.

Als Seelen in einem Körper brauchen wir beide:

In unserer Zeit zeigt sich der Mensch als Meister der Methode. Wir sprechen vom Anthropozän - der Mensch wurde durch seine Kenntnisse sogar zu einer geologischen Kraft. Im Streben nach Fortschritt, zur Erhaltung und weiteren Vermehrung des Wohlstands unserer Gesellschaften, geht unsere Forschung inzwischen so weit, das Leben selbst manipulieren zu wollen. Sie setzt sich dabei über Evolutionsprozesse hinweg, die Milliarden von Jahren erprobt sind. 

Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in allen Bereichen hat ein Ausmaß angenommen, das man als kriminellen Anschlag auf das Leben auf der Erde insgesamt betrachten muß. Die Folgen dieses rücksichtslosen Handelns sind überall und für jedermann sichtbar. Der Menschheit ist dies also wohl bewußt - und dennoch setzen wir unser zerstörerisches Verhalten weiter fort?

Wir haben über dem Materiellen vergessen, den zweiten Pfeiler unseres Daseins zu kultivieren, die Weisheit - Erfahrung und Erkenntnis all derer, die vor uns gelebt haben. Wir brauchen ein zweites Zeitalter der Aufklärung, denn das erste führte uns einseitig auf den Pfad der Methode. Wir leben ernsthaft im 21. Jahrhundert noch auf Grundlage einer gesellschaftlichen Bewegung des 17. Jahrhunderts? Wie können wir das Ganze sehen, wenn wir nur mit einem Auge hinschauen?

Vielen Menschen ist dies bewußt. Überall wird versucht, eine ursprüngliche, nicht materialistisch mißbrauchte Weisheit zu finden und danach sein Leben auszurichten. Was aber ist diese Weisheit, wie finden wir sie? Wir sind global vernetzt, wir haben Zugang zu allen möglichen Mitteln. Wir können die alten Schriften studieren, zu heiligen Orten pilgern, wir können uns Lehrer suchen. Wir können suchen mit den uns wohlbekannten Mitteln von Methode und hoffen, vielleicht irgendwo dort draußen fündig zu werden.

Der einfachste und schnellste Weg zu ursprünglicher Weisheit wäre es, unser blindes Auge zu nutzen, nach innen zu schauen, und auf das Flüstern der Natur zu hören. Das ist schwer für uns, niemand hat es uns gelehrt und wir sind ganz allein. Wir sind unsicher, ob wir unserer Erfahrung trauen können. Wir sind versucht, unser Erleben mit unserem gewohnten Auge zu betrachten. Mit dem Blick von Methode, dem Blick des Zweifels, fragen wir: Was sagt die Wissenschaft zu meinem Inneren, meinen Gefühlen, meinen Träumen, meinen Visionen? Moderne Psychologie liefert freudig Antworten. Eine ganze blühende Industrie lebt davon, die allgemeine Unsicherheit zu bedienen und neuen Forschungsbedarf zu erzeugen. Wir sollten besser vorsichtig sein und prüfen, ob die traditionellen Weisheitslehren über das Bewußtsein nicht erneut von Menschen mißbraucht werden, die sich doch nur auf dem altbekannten Pfad von Methode bewegen.

Das Auge der Weisheit wartet auf unsere Erlaubnis, endlich sehen zu dürfen.

Samstag, 2. Januar 2021

Traumtagebuch

 

So wie wir unsere anderen Fähigkeiten ausbilden, können wir auch die Kunst des Träumens kultivieren. Aktives Träumen ist eine Methode, mit der wir die grenzenlose Kreativität unseres Geistes, unsere innere Kraft kennen und nutzen lernen, um Erfahrungen mit unserer eigenen Wirklichkeit, unserer Natur machen zu können. Dann ist Träumen eine spirituelle Praxis, die uns hilft, unser Leben zu vereinfachen und glücklicher zu sein. 

Wie aber schafft man es, den flüchtigen Stoff der Träume einzufangen? Wie bekommt man Zugang zu diesem Zustand der inneren Realität?

Ein guter Anfang ist es, ein Traumtagebuch zu führen.

Für meine Nacht-Notizen benutze ich ein Schulheft DIN A4 und einen Bleistift, mit dem ich auch im Dunkeln sicher schreiben kann. Es liegt samt einer Taschenlampe einsatzbereit neben dem Bett. Ich notiere so schnell und so genau wie möglich alles, an was ich mich erinnere. Man kann auch ein Diktiergerät benutzen. Am nächsten Tag übertrage ich das Gekritzel in den Computer. Außerdem nutze ich ein Scetchbook, in das ich Zeichnungen oder Skizzen ergänzen kann. Jeder Traum bekommt einen Titel, und ich erfasse neben dem Datum drei weitere wichtige Dinge: wie waren meine Gefühle beim Aufwachen? Und: hat dieser Traum einen Bezug zur Realität, erkenne ich Orte, Personen? Die Träume werden gelabelt, so entsteht meine Traum-Datenbank. Zur Verstärkung meines Gewahrseins nehme ich mir häufig eine reale Aktion vor - ich gehe etwas einkaufen, was mir im Traum begegnet ist, ich zeichne ein Bild, ich koche etwas oder ich schreibe ein kleines Gedicht .. 

Ich beobachte und notiere auch, was mir im Alltag an Nicht-Alltäglichem begegnet - welche Botschaft hat die Welt an mich, was ist es, was ich gerade jetzt wissen soll?

Das Bewußtsein ist ein Kontinuum, und auf diese Weise trainieren wir unsere Wahrnehmung dafür. Dieser kreative Prozeß macht Spaß - uns begegnen so viele Dinge im Traum, so viel Unbekanntes. Personen, Tiere, Erscheinungen, Symbole - wenn wir dem achtsam nachgehen, erweitern wir unser Gesichtsfeld, denn im Traum ist das Bewußtsein nicht an einen Körper mit seinen 3 Dimensionen gebunden. Blicken wir auf unsere Beobachtungen, könnte es sein, daß wir zu bestimmten Dingen mehr wissen wollen. Fassen wir dies doch in eine Frage, einen einfachen Satz ans Universum. Wir werden Antworten bekommen - tags wie nachts - wenn wir nur genau hinschauen und hinhören.

Wenn wir unvoreingenommen erfassen und beobachten, verstärkt sich das Gewahrsam von allein und die Grenzen von Wachsein, Schlaf und Traum werden durchlässiger. Es kann uns mit viel Training und Hingabe gelingen, aus eigener Kraft, auch im wachen Zustand auf die unbegrenzten Ressourcen der Multidimensionalität Zugriff zu bekommen. Wir brauchen uns dafür nicht der gefährlichen Hilfsmittel der bewußtseinserweiternden Kategorien zu bedienen, wir bleiben jederzeit Herr der Lage und holen uns selbst an dem Ort ab, an dem wir gerade sind.  

Durch den Boom der sog. "Neurowissenschaften" gibt es unzählige Bücher, die sich mit der Interpretation der Symbolik einzelner Bilder befassen, die uns im Traum erscheinen.

Wir sollten uns bewußt sein, daß die Deutung dieser Traumbilder sehr individuell und insbesondere vom jeweiligen Zustand der Seele abhängig ist - sie kann keinesfalls verallgemeinert werden. 

Daher sollten wir uns nicht auf fremde Meinungen verlassen, sondern versuchen, eine eigene, nur für uns selbst gültige Kunst der Traumdeutung zu schaffen. Dies geschieht durch geduldiges Beobachten der eigenen Träume, durch Erforschen ihrer Muster, ihrer Gesetzmäßigkeiten und ihrer Zusammenhänge mit den Tagesereignissen. Dazu benötigen wir ein Traumtagebuch.

Unser Traumtagebuch kann das wichtigste Buch unseres Lebens werden.