Montag, 22. März 2021

Tag des Wassers

No blue, no green. („Her Deepness“ Dr. Sylvia Earle, Taucherin, Meeresbiologin) 

Der 22. März wurde von der UNESCO als Tag des Wassers ausgerufen. Gedenktage gibt es inzwischen unzählige, nationale wie internationale. Der 20. März ist der Tag des Glücks (um einen anderen Wohlstandsmaßstab zu finden), der 21. März der Tag des Waldes (macht auf die globale Waldvernichtung aufmerksam), der 23. März der Tag der Meteorologie (an dem auf die grenzüberschreitende Rolle des Wetters erinnert wird). An solchen Tagen gibt es stets besondere Aktionen und Veranstaltungen. Allen gemeinsam ist, daß bestehende Probleme in den Fokus der Aufmerksamkeit gebracht werden sollen, oft auch die Erinnerung an etwas, das bereits vergangen ist und nicht in Vergessenheit geraten soll, wie z.B. der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, als Auschwitz befreit wurde. Es gibt so viele Gedenktage, daß sie im Grunde völlig beliebig sind - genau wie die Unmenge an Problemen, mit denen wir konfrontiert sind. Gedenktage sind stets Ausdruck unserer Hilflosigkeit, ein Aufruf zum Frieden mit etwas. 

Jetzt also der Tag des Wassers, des Elements, das unser Dasein so sehr bestimmt und daher keineswegs beliebig ist. Die UN verfassen einen jährlichen Wasserbericht, in dem betont wird, wie sehr weltweit der Wert des Wassers unterschätzt oder mißachtet wird:

"Those who control how water is valued control how it is used. Values are a central aspect of power and equity in water resources governance. The failure to fully value water in all its different uses is considered a root cause, or a symptom, of the political neglect of water and its mismanagement. All too often, the value of water, or its full suite of multiple values, is not prominent in decision-making at all.“ https://www.unwater.org/water-facts/ecosystems/

Unsere Erde, der blaue Planet, ist zu ca. 70% von Wasser bedeckt. Wir Menschen bestehen zu 60-75% aus Wasser. Ohne Wasser gäbe es kein Leben auf der Erde. Wasser bedingt uns, Wasser nährt uns, Wasser reinigt uns - und nicht nur uns, sondern alle Lebewesen, mit denen wir den Planeten teilen. Wasser ist ein erstaunliches Element: es kommt ganz natürlich in verschiedenen Aggregatzuständen vor, flüssig, fest (Eis) und gasförmig (Wasserdampf).

Es gibt nichts flexibleres als Wasser, es paßt sich an jeden Untergrund an und strebt danach, immer wieder zusammenzufließen. Zugleich besitzt es eine sanfte, aber stetige Kraft, die auch zu tödlicher Größe anwachsen kann. Wasser spendet Leben und zerstört Leben. Kein Wunder also, daß Wasser in allen Kulturen für heilig gehalten und als beseelt verehrt wurde. Es gibt unzählige Rituale der Wasserkulte, die die wilden Wesen des Wassers zu besänftigen suchen. Man wollte von ihnen genug Regen für eine gute Ernte erbitten, auch Schutz vor Schädlingen. Überschwemmung und Hagel drohten, wenn man die Wasserwesen an ihren heiligen Plätzen störte oder sie durch Verschmutzung ihres Elements verärgerte, wenn man den Boden aufbrach, um Häuser zu bauen oder Bodenschätze zu schürfen. Die Wasserwesen schickten in diesen Fällen auch schon einmal Epidemien über die Menschheit - aus buddhistisch-hinduistischer Sicht ist das Zeitalter der Epidemien, das gerade über uns hereinzubrechen beginnt, Zeichen des Zorns dieser Wasserwesen, deren Lebensraum wir Menschen nach Belieben und ohne Rücksicht verschmutzen, verbrauchen und zerstören.

Wer Frank Schätzings wissenschaftsbasierten Roman „Der Schwarm“ (2004) gelesen hat, der von der existentiellen Bedrohung der Menschheit durch eine intelligente maritime Lebensform handelt, wird darüber vielleicht schon einmal nachgedacht haben ..

Auch in Europa gab es noch in vorchristlicher Zeit einen Wasserkult, der in unserem Märchenschatz und unserer Mythologie weiterlebt: über die Quellen wachten Nymphen, in Teichen und Seen lebte ein ganzer Hofstaat von Wassermännern und Nixen, die so manchen Schatz dort in den Tiefen bewachten. Die Böden waren Wohnstatt von Göttinnen der Fruchtbarkeit und der Heilung, so mancher Felsen wurde von Zauberinnen bewohnt, in den Ozeanen herrschten neben den kriegerischen Meeresgöttern auch mächtige Sturm- und Wettergötter. Viele Tiere der Gewässer, Wale, Schlangen (Drachen), Frösche oder Schildkröten, aber auch manche Vögel waren als Verkörperung der Wasserwesen heilig und unantastbar.

Inzwischen haben wir es anscheinend nicht mehr nötig, die Wasserwesen anzurufen, und heilig ist uns nur noch unser Geld. Die Quellen wurden zubetoniert, die in ihrem Lauf veränderten, oft in ein künstliches Bett verlegten Bäche und Flüsse nutzen wir, um unsere Fäkalien und Industrieabwässer loszuwerden, die anschließend in den Meeren landen, auf die Böden kippen wir Gülle, Kunstdünger und Pestizide. 

Die Tiere der Gewässer, die sich vor der Verschmutzung nicht fliehen können, vergiften wir - oder wir beuten ihre einst reichen Bestände bis zu ihrer völligen Auslöschung aus. Die europäische Wasserrahmenrichtlinie, die im Jahre 2000 pompös ins Leben gerufen wurde, um durch gemeinsame, zielstrebige Politik eine „gute Qualität“ der Land- und Küstengewässer wiederherzustellen, muß angesichts der mangelnden Bereitschaft der Staaten, von der bisherigen „Bewirtschaftung“ abzulassen, als gescheitert angesehen werden. Dies liegt wesentlich auch an der gesellschaftlichen Diskussion - im wasserreichen Europa ist man oft noch der Meinung, daß diese Ressource unbegrenzt zur Verfügung steht. Was für ein Irrtum ..

In dem Maße, in dem die Heiligkeit des Wassers preisgegeben wurde, entwickelte sich analog auch die Herabsetzung und Verachtung des Weiblichen. Kein Wunder, denn die Eigenschaften des Wassers und die Eigenschaften des heiligen Weiblichen sind dieselben - fließend, durchlässig, aufnahmebereit, anpassungsfähig, von sanfter, aber ausdauernder Kraft. In vorchristlicher Zeit verehrten die Menschen neben Sonne und Mond auch den Morgenstern, die Venus - auch dies eine heute vergessene Tradition, die Schöpfungskraft des Heiligen Weiblichen in uns allen zu achten. 

Das Christentum schaffte es nicht, die in der Bevölkerung tief verwurzelten Traditionen der Wasserkulte und des Göttinnenkults auszulöschen. Es erfolgte daher eine Assimilation, man wollte sich die Kräfte, die von diesen Orten ausgingen, zu eigen machen, um die Macht der Kirche zu steigern. Die bereits in vorchristlicher Zeit von den Menschen verehrten Quellen wurden häufig zu Orten der Marienverehrung, Klöster und Kirchen wurden über den Quellen erbaut, das Wasser wird bis in unsere Tage als Heilwasser vermarktet (z.B. in Kevelaer). In vielen Ortsnamen ist die Tradition noch erhalten (Marienthal, Mariabrunn, Marienborn, Marienbaum, Marienweiher, ..), sie sind weiterhin Ziel von Marienwallfahrten. Maria versinnbildlicht noch immer den Ort ultimativer Empfängnisbereitschaft, den Ort, an dem nicht nur Leben, sondern auch Weisheit empfangen werden kann. 

Es ist allgemein ersichtlich, daß wir beidem, dem Wasser wie auch dem weiblichen Prinzip, wieder ihre eigentliche Bedeutung zurückgeben müssen, wollen wir nicht durch unsere Aktivitäten zugrundegehen. 

Auch wenn wir angesichts der Größe und der Komplexität der Probleme schier verzweifeln mögen: Lassen wir uns ein auf das Prinzip des Wassers. Steter Tropfen höhlt den Stein, viele Menschen wollen nicht länger so weitermachen. Beginnen wir konkret, in unserem Haushalt, das Wasser zu achten. Verwenden wir es sparsam und bewußt. Verzichten wir auf Mineralwässer, deren Gewinnung, Herstellung und Transport Umweltschäden mit sich bringt. Ernähren wir uns bewußt - mit Nahrungsmitteln, die nicht von den Turbo-Äckern mit Maximalertrag stammen. Reduzieren wir unseren Fleischkonsum, achten wir die Schlachttiere, die ihr Leben für uns hergeben müssen. Für unsere Körperpflege, den Abwasch und die Hausreinigung nutzen wir Substanzen, die die Wasserwesen so wenig schädigen wie möglich. Seifen aus Lorbeer- und Olivenöl sind sehr hautverträglich und können gut auch zum Haarewaschen verwendet werden. Haare färbt man sehr schön mit Henna. Essig und Zitrone bringen gute Reinigungsergebnisse, und unsere Wäsche wird auch mit natürlichen Bleichmitteln (Natron) und Tensiden (Waschnuß) sauber. Setzen wir uns ein für eine Renaturierung von Flüssen und Bächen, für Schilfzonen an Seen statt Marinas, Golfplätzen und Strandbädern, fragen wir bei den Wasserwerken nach der Qualität unseres Trinkwassers über gesetzliche Grenzwerte hinaus (Mikroplastik wird z.B. bisher nicht erfaßt), machen wir Druck auf allen Ebenen .. sind wir die Lobby, die diese schädlichen und lebensverachtenden Praktiken endlich beendet. Brechen wir sie auf, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Hegemonie derer, die das imperiale Leben nicht aufgeben wollen und uns alle ins Verderben stürzen werden. Fassen wir uns ein Herz, schauen wir nicht länger weg!

„Wenn Du wahrhaftig bist, so hast Du im Herzen Gelingen und was Du tust, hat Erfolg.“ (zum Trigramm KAN / Wasser, aus dem I Ching, 1923 übersetzt von Richard Wilhelm).




Donnerstag, 11. Februar 2021

Traum und Archäologie

Mit den Mitteln von Traumarbeit können wir Zugang zu unserer lebendigen Vergangenheit bekommen, zu unseren Vorfahren und zu den alten Hütern der Weisheit. Indem wir uns träumend unabhängig von Zeit und Dimension bewegen, können wir uns durch sorgfältiges Suchen schon lang verloren geglaubtes oder verborgenes Wissen erschließen. Die Altvorderen hatten ähnliche Probleme wie wir - welche Wege sind sie gegangen, um Lösungen zu finden? Genau wie in der Archäologie sind wir darauf angewiesen, auch andere Wissenschaften, anderes Wissen einzubeziehen, um die vorgefundenen Artefakte, die Traumbilder besser einordnen zu können.

C.G. Jung (1875-1931) prägte den berühmten Begriff des „kollektiven Unbewußten“. Er definierte dieses Feld, zu dem wir v.a. in unseren Träumen Zugang bekommen können, als „Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch unterschieden werden kann, daß er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist. Das Unbewußte, betrachtet als historischer Hintergrund der Psyche, enthält in konzentrierter Form die ganze Abfolge der Engramme, welche seit unmeßbar langer Zeit die jetzige psychische Struktur bedingt haben“.

Ich möchte heute anläßlich ihres diesjährigen 100. Geburtstags an eine inspirierende Forscherin erinnern, die in den 1980er Jahren in des USA ungewollt zu einer Ikone des Feminismus wurde. Sie wies auf Grundlage ihrer archäologischen Funde ein Element des kollektiven Unbewußten im Sinne C.G. Jungs nach, das als Archetyp der „Göttin“ die uralte Verbundenheit der Menschen mit den schöpferischen Kräften der Erde definiert.  


Marija Gimbutas (1921 - 1994) stammte aus Litauen und wurde nach ihrer Auswanderung in die USA Professorin für europ. Archäologie am UCLA in Santa Barbara, von wo aus sie über viele Jahre hinweg Grabungen in Europa vornahm. Sie war nicht nur Archäologin, sondern auch Linguistin und Mythenforscherin und kombinierte ihr vielseitiges Wissen zu einem neuen Gebiet, das sie „Archäo-Mythologie“ nannte. Ich zitiere aus ihrem Werk „The Civilisation of the Goddess“:

“We must refocus our collective memory. The necessity of this has never been greater as we discover that the path of ‘progress’ is extinguishing the very conditions for life on earth. From behind the curtains of ordinary perception, the ancestors are calling. I am reminded again and again that one of the gifts of dreaming is that it opens authentic connections to the ancestors, offering us the chance to heal the wounds of the past and to perform cultural soul retrieval.“

1956 stellte sie eine völlig neue Hypothese zur Kultur- und Sprachenentwicklung des steinzeitlichen Europa auf, die sog. „Kurgan-Hypothese“. Sie postulierte damit einen Paradigmenwechsel auf dem Feld der Archäologie, wofür sie zeit ihres Lebens angefeindet wurde. In den letzten Jahren wurden ihre Arbeiten dank der Möglichkeiten der DNA-Analyse sehr alten Knochenmaterials eindrucksvoll bestätigt: 

Zu Beginn des Holozän, nach dem Ende der letzen Eiszeit vor ca. 12.000 Jahren begann in Europa ab etwa 8.000 v.Chr. die neolithische Revolution, der Beginn des Ackerbaus. Ab dieser Zeit treten in Süd- und Südosteuropa viele keramische Figurinen auf, 95% davon in weiblicher „Violinen“-Form:












Zusammenstellung und Animation: Nina Paley


Derartige Venuskunst ist bereits aus der davorliegenden, klimatisch ungünstigeren Zeit der Jäger und Sammler, dem Gravettien, für den gesamten Raum von Sibirien bis Europa bekannt (z.B. Venus von Willendorf, ca. 28.000 Jahre). Marija Gimbutas beschäftigte sich als erste mit diesen reichen keramischen Funden und ihrer visuellen Sprache, die aus ihrer Sicht wesentliche Elemente der damaligen Kultur dokumentieren. Der halb-realistisch weibliche Körper mit hervorgehobenen Geschlechtsteilen weist auf die Gabe hin, Leben zu schenken. Steife und lange Formen weisen auf Tod und Wiedergeburt. Venuskunst ist die Darstellung der lebensspendenden Ur-Mutter und des Kreislaufs des Lebens. Gimbutas erstellte ein umfangreiches Lexikon der Symbolik dieser Funde als Dokumentation der Mythen, Träume und Archetypen dieser Zeit, wobei ihre Funde die Jung´schen Theorien der Tiefenpsychologie unterstützen.

In dieser damals in Europa verbreiteten matrifokalen (aber nicht matriarchalen) Kultur fehlten metallische Artefakte, weshalb man sie als friedlich einordnet. Das änderte sich um 5.000 v.Chr., als von Osten her die Migration der „Kurgan“-Völker einsetzte, die in mehreren Wellen nach Europa einzogen. Kurgane waren besondere Grabhügel, die diese Menschen nur für eine Elite ihrer Toten errichteten. Die Steppenvölker hatten das Pferd domestiziert, sie brachten Waffen aus Metall mit und ihre Kriegskunst. Sie verehrten männliche Himmelsgötter und hatten ein patrilineales Sozialsystem. 

Marija Gimbutas´ Kurgan-Hypothese besagt nun, daß diese Invasion um 3.000 v.Chr. zu einer schnellen Assimilierung der bis dahin matrifokal und auf regenerative Kräfte hin organisierten steinzeitlichen Ackerbau-Gesellschaften Europas und der Megalith-Kulturen führte. In abgelegenen Gebieten, z.B. auf Kreta, hielt die Verehrung der alten Göttin noch bis in die Bronzezeit an. Bei den Etruskern, in Schottland oder im Baskenland sind noch Spuren der alten Sprache und matrilinearen Kultur erhalten, auch die Marienverehrung ist in ganz Europa weiter lebendig.

Die Nutztierhaltung, das Führen von Kriegen und die patriarchalische Struktur ist die seither vorherrschende Gesellschaftsform geblieben, während die Kultivierung des friedliebenden, lebensspendenden weiblichen Elements nicht nur zurückgedrängt, sondern sogar mit Krieg und Vernichtung überzogen wurde. Wir sehen inzwischen die Probleme, wir wollen es besser machen. Ganz offensichtlich ist der Weg zu einer balancierteren Gesellschaft noch weit. Abermals ist Europa mit neuen Wellen von Migration konfrontiert - wie werden sie uns diesmal verändern? 

Lernen wir von den Menschen der Steinzeit, und auch von unseren zeitgenössischen Indigenen. Sie lebten mit der Natur, nicht gegen sie. Sie entwickelten Kulturen, die das Leben ehrten und die Kräfte, die Leben spenden. Sie lebten in Frieden. Mehr oder weniger, aber das war der Trend.

Marija Gimbutas wurde von der UNESCO geehrt als außergewöhnliche Persönlichkeit, “who helped shape the civilization we share by contributing to the mutual enrichment of cultures for universal understanding and peace.” Ihre Hauptwerke sind auch auf deutsch erschienen:

Die Zivilisation der Göttin. Die Welt des alten Europa (1996)
Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der westlichen Zivilisation (1998)
Göttinnen und Götter des Alten Europa: Mythen und Kultbilder (2010) 


Tribute to the Goddess, by Nina Paley (Music: "Woman" by John Lennon (1980)



Samstag, 6. Februar 2021

Kommen wir zu Ruhe. Jetzt!

Oft spüren wir, da liegt etwas in der Luft, etwas ist anders als sonst, da ist eine bestimmte Schwingung .. Gerade heute geht es mir so. Dann kommt mir manchmal Musik in den Sinn, die dazu paßt ..

Ich denke an das viele Leid, das die COVID-19 Pandemie noch zusätzlich über die Welt gebracht hat. Trotz unseres Reichtums, trotz unseres geballten Wissens waren wir ziemlich schlecht darauf vorbereitet. Die warnenden Stimmen haben wir ignoriert, und wenn wir ehrlich sind, dann kann es auch noch viel schlimmer kommen...

Aus buddhistischer Perspektive stößt einem Glück oder Leid nicht einfach zu. Der Verlauf des individuellen Lebens ist schicksalhaft bedingt durch unsere Aktivitäten in früheren Leben. Schlechtes Karma kann aber überwunden werden, um in Zukunft ein glücklicheres Los zu ziehen. Dafür könnten wir uns entscheiden, dieses arme verwirrte Kind, das unser Geist ist, wenigstens IN DIESEM LEBEN endlich einmal auf eine bessere Schule zu schicken, nachdem wir seine Erziehung davor viel zu lange vernachlässigt haben. Richtige Schulung wird uns dabei helfen, Kontrolle über die Geistesgifte zu bekommen, die uns wesentlich daran hindern, ein wahrhaftiges und glückliches Leben zu führen. Eines dieser fünf Gifte ist die Unwissenheit, die Ignoranz, ein anderes der Stolz.

Unsere Gesellschaft ist sehr stolz. Und sehr ignorant. Wir hören ja nicht einmal unseren eigenen Wissenschaftlern zu. Und wir erkennen in unserem unfaßbaren Stolz unsere Ignoranz nicht einmal, geschweige daß wir darüber diskutierten oder nach Wegen suchten, unsere immer weiter fortschreitende Selbstvergiftung zu unterbinden. Das ist der Grund für die unglücksverheißende Abwärts-Spirale, in der wir uns befinden. Wir achten bei unserer Ernährung sehr darauf, möglichst keine Gifte aufzunehmen, wir fasten, um den Körper zu ent-giften. Und unser Geist, wie entgiften wir den? Wie bekommen wir unseren Stolz, unsere Ignoranz besser unter Kontrolle? 

Nyoshul Jamyang Dorje Rinpoche (1932-1999) war ein tibetischer Dzogchen-Meister, der auch in Europa lehrte. Er gab in einem seiner Gedichte den Rat, das Mittel der Meditation zu nutzen, um zur Ruhe zu kommen und damit auf natürliche Weise inneren Frieden zu finden:

"Rest in natural great peace

This exhausted mind

Beaten helplessly by Karma and neurotic thought,

Like the relentless fury of the pounding waves

In the infinite ocean of Samsara."

Richard Page hat das Gedicht vertont, es kommentiert Nyoshul Khenpos Freund Sogyal Rinpoche (1947-2019):

Es gibt viele Formen von Meditation, von "Gedanken-Fasten". Wie kommen wir in unsere Mitte? Das Träumen ist einer von vielen Wegen, die zwar vielversprechend sind, aber recht aufwendig erscheinen mögen. Für den Beginn unserer geistigen Selbst-Schulung könnten wir den einfachen Entschluß fassen, uns einfach nicht weiter selbst zu vergiften. Ein weiteres der fünf Geistesgifte ist der Ärger: Ärgern wir uns nicht länger über uns selbst. Regen wir uns nicht auf über all die stolzen und unwissenden Zeitgenossen, verurteilen wir nicht, schauen wir auf unsere Fehler wie eine Mutter ihr Kind betrachtet, das es einfach noch nicht besser kann. Praktizieren wir Großzügigkeit und Gleichmut, suchen wir Weisheit und Wahrhaftigkeit. 

Warten wir nicht auf jemanden, der vielleicht vorangeht. Tun wir es einfach selbst, JETZT! 



Sonntag, 31. Januar 2021

Natur, was ist das? Teil I

 









Angesichts der ökologischen Krise, in der wir stecken, sollten wir uns mit der grundlegenden Frage auseinandersetzen, was wir Menschen unter Natur verstehen. Zurück zur Natur, ist das die Lösung? Und was wäre das dann für ein Zustand? Hier der Beginn einer kleinen Serie zu einem komplexen Thema.

Unser westlicher Naturbegriff wurde durch den griechischen Philosophen Platon im 4.Jh. v. Chr. geprägt. Er definierte als Natur einfach alles, was schon da ist und bezeichnete dies mit dem Begriff „Physis". Dies beinhaltete sowohl die äußere, materielle Natur wie auch das, was einem Wesen im Inneren zu eigen ist, also die Seele und die Verbindung zum Kosmos oder dem Göttlichen. Platons Schüler Aristoteles führte dann den Begriff „Techné" für alles willkürlich Geschaffene ein - damit war die Grundlage gelegt für die spätere Naturphilosophie, die Kultur als wesentliches Merkmal von Zivilisation definierte, was auch die zweckhafte Umgestaltung von „Natur“ beinhaltete. 

Zweck war grundsätzlich, sich das Leben zu vereinfachen, Zeit und Kraft zu sparen. Dafür wurden alle Kulturtechniken (übrigens im gesamten Tierreich) entwickelt. Die „Kultivierung“ der Natur durch den Menschen, also die Veränderung dessen, was man vorfand, mit den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln, die immer weiter verfeinert wurden, führte zu kriminellem Raubbau und schließlich zu dem beginnenden Zusammenbruch kompletter Ökosysteme, den wir heute sehen. 

Bereits in der Steinzeit hat der Mensch „overkill“-Strategien angewandt, in deren Folge (zusammen mit ungünstigen klimatischen Faktoren) weltweit vor etwa 15.000 Jahren die gesamte eiszeitliche Megafauna ausgerottet wurde. Es wurde stets mehr, und dann noch mehr entnommen, als man für das eigene Überleben brauchte. Dies führte zu immer größeren Veränderungen der natürlichen Systeme, degenerierte, meist kraftlose „Kulturlandschaften“ entstanden, und die wilden „Naturlandschaften“ mußten dank der Verbesserung der technischen Mittel zunehmend weichen. Es folgte eine innere Entfremdung von Natur - das Wissen über die ursprünglichen Gegebenheiten verschwand, und viele Menschen empfinden Raps- und Maisfelder und monotone Forste tatsächlich als schön, als Natur. Sie haben also im platonischen Sinne das, was an Umwelt gegeben ist, bereits als ihre Natur verinnerlicht. 

Die Verluste an Biodiversität in unseren Tagen der "Hochtechnologie“ sind so groß, daß die Journalistin Elizabeth Kolbert dieses Massensterben (bzw. den Massenmord) in ihrem preisgekrönten Buch 2014 als sechste Welle bezeichnet - der Mensch hat die Kraft einer Naturgewalt angenommen, wir gestalten das Zeitalter des Anthropozän. 

Wir müssen erkennen, daß der Mensch schon lange Krieg gegen die Natur führt - unsere vermeintliche „Hochkultur" hat es leider nie geschafft, dieses Verhalten als ungünstig zu erkennen und entsprechende Moralvorstellungen zu entwickeln. Dieses Verhaltensmuster ist inzwischen so tief im menschlichen Wesen verankert, daß wir zwar erkennen, das wir inzwischen dem eigenen Untergang entgegengehen, aber nichts dagegen tun. Wir schauen weg, bis es wie in Lars von Triers Film "Melancholia" zur Katastrophe kommt. 

Erinnern wir uns, warum der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde: er wollte immer mehr, als ihm geschenkt wurde. Aus spiritueller Sicht, und das ist auch die biblische Botschaft, ist es unsere genuine Aufgabe als Menschen, diesen Tiefpunkt zu überwinden. Wir können uns entscheiden, ob wir weiter Krieg führen oder endlich friedlich werden wollen. 

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bemerkte 1973, daß "die zunehmende Domestikation des Menschen seine Menschlichkeit bedroht“. Es gilt, unsere ursprüngliche Natur, unsere wilde, undomestizierte Paradiesnatur zurückzuerobern. Es gilt, die Entfremdung sowohl von der äußeren wie auch unserer inneren Natur aufzuheben. Es gilt, unseren mitfühlenden menschlichen Kern, unsere Humanitas, zu erwecken und zu leben.

Wenn uns das nicht gelingt, ist alle Politik hilflos und sinnlos. Nachhaltige Entwicklung steht protzig auf den Agendas, dorthin fließen die Millionen - und das soll also unsere Vision für die Zukunft sein, immer weiter ausbeuten, anderen Lebewesen nur dann ein Daseinsrecht zugestehen, wenn es uns auch nützt? Dieses Konzept ist doch nur ein fauler Kompromiß mit den ewigen Bremsern, den Vorgestrigen, schon lange völlig überholt. 

Die Entwicklung von Mitgefühl und die Anwendung in allen Ebenen unseres Lebens sollte stattdessen der Kern unserer gesellschaftlichen Debatten und unseres Handelns sein!

Wir haben bereits alle technischen Mittel, damit eine Transformation gelingen kann. Die Konzepte liegen anwendungsbereit in den Schubladen. So lange Politik nicht in der Lage ist, adäquat zu handeln, so ist es zu allererst doch an jedem Einzelnen von uns, bewußte Entscheidungen zu treffen. Wie also führen wir unser Leben? Wie ernähren wir uns? Womit beschäftigen wir uns, wie nähren wir unsere Seele? Wem geben wir unsere Arbeitskraft? Wieviel Geld brauchen wir zum Glücklichsein? Usw. .. Schon viele Menschen haben sich aufgemacht, aber immer noch viel zu wenige! Machen wir uns gegenseitig Mut, radikal Mensch zu sein. Machen wir uns gegenseitig Mut, einfach glücklich zu sein.


weiterführende Literatur: 

Elizabeth Kolbert: Das sechste Sterben: Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt (2015) 

E.O. Wilson: Die Hälfte der Erde: Ein Planet kämpft um sein Leben (2016)

Melancholia. Film von Lars von Trier (2011)







Woher kommen die Träume?

 




„Wer die Quelle kennt, trinkt nicht aus dem Krug.“ Willigis Jäger OSB (1925 - 2020)

In meinem Blog finden sich viele posts zum Thema „Natur“. Der Grund dafür ist, daß Natur und Traum eng miteinander verbunden sind, da ihr Ursprung derselbe ist.

Träumen ist hip, Träumen ist lifestyle. Alle träumen wir gern, treten aus unserer Realität heraus, finden die Geschenke unserer Träume interessant. Aber wohin genau gehen wir, wenn wir träumen? Woher kommen die Träume? Das ist keine triviale Frage. 

Wir suchen Kontakt mit der "Natur", wenn wir Kraft schöpfen, uns erholen wollen. Wir fahren hinaus aus der Stadt, vielleicht in eine Gegend mit weitem Blick, um den Kopf frei zu bekommen, lassen uns am Meer den Wind um die Ohren sausen oder laufen barfuß am Strand. 

Im Traum passiert es ganz automatisch, daß wir Kontakt mit dieser Quelle der Kraft bekommmen. Wir bewegen uns hier in unserer inneren Natur, die allerdings von der äußeren gar nicht zu trennen ist. Es ist nur unsere Wahrnehmung, die sich verändert hat. Neben dem Ozean, an dessen Stränden wir spazieren gehen, haben wir auch Zugang zu einem inneren Ozean. Wenn wir aktiv träumen, haben wir noch dazu eine Absicht, mit der wir bestimmte Orte in dieser inneren Natur aufsuchen, wir wollen etwas wissen, Heilung erfahren oder jemanden treffen. Was also ist diese „Natur“, dieser "innere Ozean"?

Das Träumen ist ein Bewußtseinszustand, in dem wir unsere gewohnte, an den Körper und die Sinnesorgane gebundene Realität verlassen und uns in einen weiten, sogar unendlich weiten Raum begeben. Er ist mit materiell-mechanistischen Kategorien nicht zu fassen, da er eben über die individuelle, die körperliche Ebene hinausreicht. Naturwissenschaft zerlegt ihr Sujet in immer kleinere Teile, die man dann messend erfassen kann - das Ganze kommt bei zunehmender Komplexität aus dem Blick. Daher kann Naturwissenschaft auch gar nicht den Anspruch haben, "die Natur" oder "die Wirklichkeit" als Ganzes zu beschreiben. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich mit der Anwendung von Einsteins Relativitätstheorie auch die theoretische Physik („Weltmodell“) weiter, es entstand die Quantentheorie, nach der, basierend auf dem Teilchen-Welle-Dualismus, Materie weder subjektiv noch objektiv verortbar ist - allenfalls beschreibbar als ein „Feld“ von Interkonnektivität. In dem berühmten Briefwechsel zwischen dem Psychiater C.G. Jung und dem Physiker Wolfgang Pauli (1932-1958) geht es in einem weiteren Versuch, naturwissenschaftliche Kategorien auf psychodynamische Phänomene, wie das Träumen oder das Auftreten von Synchronizität, anzuwenden, darum, für die Beschreibung von äußerer und innerer Welt zunächst eine gemeinsame Sprache zu finden. Jung wollte v.a. die Existenz, Bedeutung und Dynamik der von ihm als archetypisch bezeichneten Dimension der Psyche nachweisen und verstehen. Die beiden konstatierten schließlich, daß wir eine solche Sprache bisher nicht haben - der Weg nach innen führt nur über das Erleben, über die inneren Bilder.

Das ist bis heute so geblieben, der weiterhin mechanistische Ansatz der Neurowissenschaften ist daher in dieser Hinsicht nicht hilfreich. Der Physiker H.-P. Dürr (1929-2014) beschrieb das generelle Phänomen, daß nicht nur psychische Phänomene, sondern Materie insgesamt eben nicht faßbar sind: "Wir erleben mehr als wir begreifen."(Für die Vermittlung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Anwendung auf grundlegende gesellschaftliche Fragen wie Umweltschutz und Frieden erhielt er neben vielen anderen Auszeichnungen 1987 den alternativen Nobelpreis.) 

Im tibetischen Buddhismus gibt es schon viel länger eine ähnliche Vorstellung, die in den Lehren der höchsten Vollendung, des Dzogchen, niedergelegt ist. Die (nicht in Kategorien beschreibbare) „Natur des Geistes“ wird verstanden als die Gesamtheit aller Phänomene (die Fülle), und zugleich als das Potential, das diese Fülle zu erzeugen vermag (die Leere).

Sowohl Quantentheorie als auch Dzogchen sind schwer zu erschließen. Die Dzogchen-Lehren wurden immerhin nicht nur als reines Theoriegebäude verfaßt, sondern beinhalten ein umfassendes Geistestraining, das geschulte Meister vermitteln.

Neben der Meditation ist das Träumen eine der empfohlenen Methoden, um in die "Natur des Geistes", die Quelle, die Essenz allen Seins, einzutreten. Dieser Zustand ist bereits aus sich selbst heraus vollkommen, wir brauchen nichts weiter zu tun als loszulassen .. Träume sind die Erfahrung dieser Quelle, dieser Essenz des Bewußtseins - der inneren Natur.


weiterführende Literatur:
Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben (2020)
Keith Dowman: Dzogchen: A Matter of Mind (2020) (english)
Chögyal Namkhai Norbu: Dzogchen – der ursprüngliche Zustand (2017)
H.-P. Dürr: Wir erleben mehr als wir begreifen: Quantenphysik und Lebensfragen (2007)
Robert Moss: Conscious Dreaming (1997) (english)