Donnerstag, 11. Februar 2021

Traum und Archäologie

Mit den Mitteln von Traumarbeit können wir Zugang zu unserer lebendigen Vergangenheit bekommen, zu unseren Vorfahren und zu den alten Hütern der Weisheit. Indem wir uns träumend unabhängig von Zeit und Dimension bewegen, können wir uns durch sorgfältiges Suchen schon lang verloren geglaubtes oder verborgenes Wissen erschließen. Die Altvorderen hatten ähnliche Probleme wie wir - welche Wege sind sie gegangen, um Lösungen zu finden? Genau wie in der Archäologie sind wir darauf angewiesen, auch andere Wissenschaften, anderes Wissen einzubeziehen, um die vorgefundenen Artefakte, die Traumbilder besser einordnen zu können.

C.G. Jung (1875-1931) prägte den berühmten Begriff des „kollektiven Unbewußten“. Er definierte dieses Feld, zu dem wir v.a. in unseren Träumen Zugang bekommen können, als „Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch unterschieden werden kann, daß er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist. Das Unbewußte, betrachtet als historischer Hintergrund der Psyche, enthält in konzentrierter Form die ganze Abfolge der Engramme, welche seit unmeßbar langer Zeit die jetzige psychische Struktur bedingt haben“.

Ich möchte heute anläßlich ihres diesjährigen 100. Geburtstags an eine inspirierende Forscherin erinnern, die in den 1980er Jahren in des USA ungewollt zu einer Ikone des Feminismus wurde. Sie wies auf Grundlage ihrer archäologischen Funde ein Element des kollektiven Unbewußten im Sinne C.G. Jungs nach, das als Archetyp der „Göttin“ die uralte Verbundenheit der Menschen mit den schöpferischen Kräften der Erde definiert.  


Marija Gimbutas (1921 - 1994) stammte aus Litauen und wurde nach ihrer Auswanderung in die USA Professorin für europ. Archäologie am UCLA in Santa Barbara, von wo aus sie über viele Jahre hinweg Grabungen in Europa vornahm. Sie war nicht nur Archäologin, sondern auch Linguistin und Mythenforscherin und kombinierte ihr vielseitiges Wissen zu einem neuen Gebiet, das sie „Archäo-Mythologie“ nannte. Ich zitiere aus ihrem Werk „The Civilisation of the Goddess“:

“We must refocus our collective memory. The necessity of this has never been greater as we discover that the path of ‘progress’ is extinguishing the very conditions for life on earth. From behind the curtains of ordinary perception, the ancestors are calling. I am reminded again and again that one of the gifts of dreaming is that it opens authentic connections to the ancestors, offering us the chance to heal the wounds of the past and to perform cultural soul retrieval.“

1956 stellte sie eine völlig neue Hypothese zur Kultur- und Sprachenentwicklung des steinzeitlichen Europa auf, die sog. „Kurgan-Hypothese“. Sie postulierte damit einen Paradigmenwechsel auf dem Feld der Archäologie, wofür sie zeit ihres Lebens angefeindet wurde. In den letzten Jahren wurden ihre Arbeiten dank der Möglichkeiten der DNA-Analyse sehr alten Knochenmaterials eindrucksvoll bestätigt: 

Zu Beginn des Holozän, nach dem Ende der letzen Eiszeit vor ca. 12.000 Jahren begann in Europa ab etwa 8.000 v.Chr. die neolithische Revolution, der Beginn des Ackerbaus. Ab dieser Zeit treten in Süd- und Südosteuropa viele keramische Figurinen auf, 95% davon in weiblicher „Violinen“-Form:












Zusammenstellung und Animation: Nina Paley


Derartige Venuskunst ist bereits aus der davorliegenden, klimatisch ungünstigeren Zeit der Jäger und Sammler, dem Gravettien, für den gesamten Raum von Sibirien bis Europa bekannt (z.B. Venus von Willendorf, ca. 28.000 Jahre). Marija Gimbutas beschäftigte sich als erste mit diesen reichen keramischen Funden und ihrer visuellen Sprache, die aus ihrer Sicht wesentliche Elemente der damaligen Kultur dokumentieren. Der halb-realistisch weibliche Körper mit hervorgehobenen Geschlechtsteilen weist auf die Gabe hin, Leben zu schenken. Steife und lange Formen weisen auf Tod und Wiedergeburt. Venuskunst ist die Darstellung der lebensspendenden Ur-Mutter und des Kreislaufs des Lebens. Gimbutas erstellte ein umfangreiches Lexikon der Symbolik dieser Funde als Dokumentation der Mythen, Träume und Archetypen dieser Zeit, wobei ihre Funde die Jung´schen Theorien der Tiefenpsychologie unterstützen.

In dieser damals in Europa verbreiteten matrifokalen (aber nicht matriarchalen) Kultur fehlten metallische Artefakte, weshalb man sie als friedlich einordnet. Das änderte sich um 5.000 v.Chr., als von Osten her die Migration der „Kurgan“-Völker einsetzte, die in mehreren Wellen nach Europa einzogen. Kurgane waren besondere Grabhügel, die diese Menschen nur für eine Elite ihrer Toten errichteten. Die Steppenvölker hatten das Pferd domestiziert, sie brachten Waffen aus Metall mit und ihre Kriegskunst. Sie verehrten männliche Himmelsgötter und hatten ein patrilineales Sozialsystem. 

Marija Gimbutas´ Kurgan-Hypothese besagt nun, daß diese Invasion um 3.000 v.Chr. zu einer schnellen Assimilierung der bis dahin matrifokal und auf regenerative Kräfte hin organisierten steinzeitlichen Ackerbau-Gesellschaften Europas und der Megalith-Kulturen führte. In abgelegenen Gebieten, z.B. auf Kreta, hielt die Verehrung der alten Göttin noch bis in die Bronzezeit an. Bei den Etruskern, in Schottland oder im Baskenland sind noch Spuren der alten Sprache und matrilinearen Kultur erhalten, auch die Marienverehrung ist in ganz Europa weiter lebendig.

Die Nutztierhaltung, das Führen von Kriegen und die patriarchalische Struktur ist die seither vorherrschende Gesellschaftsform geblieben, während die Kultivierung des friedliebenden, lebensspendenden weiblichen Elements nicht nur zurückgedrängt, sondern sogar mit Krieg und Vernichtung überzogen wurde. Wir sehen inzwischen die Probleme, wir wollen es besser machen. Ganz offensichtlich ist der Weg zu einer balancierteren Gesellschaft noch weit. Abermals ist Europa mit neuen Wellen von Migration konfrontiert - wie werden sie uns diesmal verändern? 

Lernen wir von den Menschen der Steinzeit, und auch von unseren zeitgenössischen Indigenen. Sie lebten mit der Natur, nicht gegen sie. Sie entwickelten Kulturen, die das Leben ehrten und die Kräfte, die Leben spenden. Sie lebten in Frieden. Mehr oder weniger, aber das war der Trend.

Marija Gimbutas wurde von der UNESCO geehrt als außergewöhnliche Persönlichkeit, “who helped shape the civilization we share by contributing to the mutual enrichment of cultures for universal understanding and peace.” Ihre Hauptwerke sind auch auf deutsch erschienen:

Die Zivilisation der Göttin. Die Welt des alten Europa (1996)
Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der westlichen Zivilisation (1998)
Göttinnen und Götter des Alten Europa: Mythen und Kultbilder (2010) 


Tribute to the Goddess, by Nina Paley (Music: "Woman" by John Lennon (1980)



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